Seit nunmehr über sechzig Jahren geht die Rechtsprechung davon aus, daß bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sowohl die Vermögensverhältnisse des Geschädigten als auch des Täters Berücksichtigung finden dürfen.
Diese Rechtsprechung ist nicht unumstritten. Sollte etwa einer wohlhabenden Person bei einer Verletzung ein besonders hohes Schmerzensgeld zustehen, nur weil sich ein kleines Schmerzensgeld in ihren Lebensverhältnissen gar nicht bemerkbar machen würde? Oder sollte ihr Schmerzensgeld eher besonders klein sein, weil sie es schließlich nicht „nötig hat“? Soll ein Geschädigter der zusammengeschlagen worden ist, ein unterdurchschnittliches Schmerzensgeld erhalten, weil der Täter nur ein geringes Einkommen hat?
Persönlich erscheint mir nachvollziehbar, die Vermögensverhältnisse der Betroffenen bei der Bezifferung des Schmerzensgeldes regelmäßig zu vernachlässigen.
Der 2. Strafsenat am BGH hat nun die Auffassung vertreten, daß beide Umstände auf die Bemessung des Schmerzensgeldes keinen Einfluß haben sollten. Unter Berufung unter anderem auf Art. 1 GG hat der Strafsenat ausgeführt, daß jeder Mensch ein gleich gewichtetes Recht auf körperliche Unversehrtheit habe. Auch der Ausgleichsanspruch bei Verletzung dieses Rechts sei entsprechend bei jeder Person unabhängig von ihren Vermögensverhältnissen oder jenen des Schädigers zu bestimmen.
Zur Entscheidung dieser Frage, der sowohl in Strafverfahren als auch in Zivilverfahren Bedeutung zukommt, waren nun die Vereinigten Großen Senate am BGH aufgerufen. Nach dem Beschluß vom 16.09.2016 dürfen die Vermögensverhältnisse der Beteiligten auch weiterhin herangezogen worden. Das entscheidende Wort heißt: „Dürfen“, wobei der BGH das Wort im Text der Entscheidung sogar hervorhebt.
So verweist der BGH darauf, daß der Gesetzgeber dem zur Entscheidung berufenen Richter mit der im Gesetz verwendeten Formulierung, wonach eine „billige“, also eine angemessene Entschädigung zuzusprechen ist, die Möglichkeit gibt, alle Umstände des Einzelfalles zu erfassen und gegeneinander abzuwägen. Hierbei können die Vermögensverhältnisse der Beteiligten nicht für jeden Fall im Vorfeld ausgenommen werden. So führt der BGH etwa aus:
„Wenn der Genugtuungsgedanke eine Bedeutung behalten soll, sind „Art und Ausmaß des vom Schädiger wiedergutzumachenden Unrechts“ eben nicht in allen denkbaren Fällen abstrakt-generell von seinen Vermögensverhältnissen und insbesondere einem etwaigen wirtschaftlichen Gefälle zwischen den Parteien „gänzlich unabhängig“ (2. Strafsenat, Beschluss vom 8. Oktober 2014 – 2 StR 137/14 und 2 StR 337/14, aaO Rn. 35). Die Verletzung einer „armen“ Partei durch einen vermögenden Schädiger kann etwa bei einem außergewöhnlichen „wirtschaftlichen Gefälle“ ein bei der Gesamtbetrachtung des Einzelfalles mit zu berücksichtigender Umstand sein.“
Der BGH stellt allerdings auch noch einmal klar, daß die Vermögensverhältnisse der Beteiligten nicht den Schwerpunkt der Entscheidung bilden:
„Dazu ist zunächst nochmals zu betonen, dass es bei der Bemessung der billigen Entschädigung in Geld nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, wie etwa die Vermögensverhältnisse des Schädigers oder des Geschädigten, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls geht. Diese hat der – rechtlicher Kontrolle unterliegende – Tatrichter zunächst sämtlich in den Blick zu nehmen, dann die fallprägenden Umstände zu bestimmen und diese im Verhältnis zueinander zu gewichten. Dabei ist in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen; hier liegt das Schwergewicht“
Der BGH befaßt sich dann weiter mit der Frage, wann die Vermögensverhältnisse der Beteiligten im Urteil überhaupt Erwähnung finden müssen, und führt hierzu aus:
„Im Rahmen der bei der Bemessung der billigen Entschädigung in Geld wie dargestellt gebotenen Gesamtbetrachtung steht in der Regel die infolge der Schädigung erlittene Lebenshemmung im Vordergrund. Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der beiden Teile und Ausführungen zu deren Einfluss auf die Bemessung der billigen Entschädigung sind daher nur geboten, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse dem Einzelfall ein besonderes Gepräge geben und deshalb bei der Entscheidung ausnahmsweise berücksichtigt werden mussten.“
Es wird deutlich, daß die Vermögensverhältnisse der Beteiligten nur in Ausnahmefällen maßgeblichen Einfluß auf die Zumessung des Schmerzensgeldes haben werden. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung wird dabei meiner Erwartung nach ein entscheidender Umstand sein, ob der Schädiger die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat, sie also im Zuge seines Handelns mindestens billigend in Kauf genommen hat. Wer eine andere Person in strafbarer Weise an der Gesundheit schädigt, wird später kaum darauf verweisen können, daß das dem Geschädigten zustehende Schmerzensgeld nicht allzu hoch ausfallen dürfe, da er, der Täter, nur über ein geringes Einkommen verfüge.
Dieses Verhältnis, wonach den Einkommensverhältnissen nur in Ausnahmefällen und abseits von in verwerflicher Weise herbeigeführten Schädigungen Bedeutung zukommt, herrschte übrigens in der Rechtsprechung lange Zeit vor. Gerade im Strafrecht wurde die Ausnahme indes zunehmend zur Regel erhoben, wenn etwa der 2. Strafsenat des BGH in der Entscheidung vom 07.07.2010 – 2 StR 100/10 – betonte, daß es bei der Bemessung des Schmerzensgeldes „regelmäßig erforderlich“ sei, die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien zu berücksichtigen.
Wenn es dem 2. Strafsenat nun auch nicht gelungen ist zu bewirken, daß die Vermögensverhältnisse fortan stets außer Betracht bleiben, so ist er zumindest die (auch) von ihm gerufenen Geister wieder losgeworden.
RA Müller