Wikipedia definiert den „Reflex“ als „unwillkürliche, rasche und gleichartige Reaktion eines Organismus auf einen bestimmten Reiz„. Läßt man es durchgehen, die Staatsanwaltschaft als Organismus im Sinne eines ganzheitlichen, hierarchisch gegliederten und zielgerichtet agierenden Systems zu bezeichnen, so kann die Reaktion auf einen unter Alkoholeinfluß stehenden Kraftfahrzeugführer, der einen Unfall verursacht, als Reflex verstanden werden.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Der Beschuldigte (B) fährt morgens zur Arbeit. An einer Kreuzung muß er auf eine Lücke im regen Verkehr, der auf der Vorfahrtstraße herrscht, warten. Die aufgehende Sonne blendet etwas. Endlich ist sie da, die Lücke! B fährt an … hat sich aber leider zu sehr auf die Kfz auf der Vorfahrtstraße konzentriert, ist vielleicht auch durch die aufgehende Sonne geblendet worden. Jedenfalls übersieht B den sich seitlich nähernden Fahrradfahrer. Es kommt zur Kollision. Ohne daß er hiermit gerechnet hatte, weist B, der in der vorangegangenen Nacht Alkohol getrunken hatte, noch eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0,65 Promille auf. Er fühlte sich topfit. Die Polizei stellt bei ihm keine typischen Ausfallerscheinungen fest. B torkelt nicht, bewegt sich insgesamt sicher, hat keine geröteten Augen, keine verlangsamte Reaktion, sein Denkablauf ist klar etc.
Es wird ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wegen „Gefährdung des Straßenverkehrs“, § 315c StGB. Voraussetzung ist, daß B infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht mehr in der Lage war, sein Fahrzeug sicher zu führen. Bei einer BAK ab 1,1 Promille wird dies unwiderlegbar vermutet. Auch der alkoholgewöhnteste Trinker, bei dem das Zittern in den Händen erst nach ein paar Bierchen nachläßt, ist bei dieser BAK fahruntüchtig.
Liegt die BAK dagegen zwar bei 0,3 mindestens Promille, indes noch unter 1,1 Promille, so besteht Fahruntüchtigkeit nur, wenn alkoholbedingte Ausfallerscheinungen hinzukommen.
An dieser Stelle setzt nun der Reflex der Staatsanwaltschaft ein: Bei einer solchen Alkoholisierung wird häufig jede Unfallverursachung als alkoholbedingte Ausfallerscheinung gesehen. Folge ist, daß die Staatsanwaltschaft ggf. den Erlaß eines Beschlusses beantragt, mit welchem dem Beschuldigten vorläufig die Fahrerlaubnis entzogen wird. Hieran wiederum hängt nicht selten der Arbeitsplatz des Beschuldigten. Das Wehklagen ist also groß.
Wehe dem Beschuldigten, wenn das Amtsgericht, das über den Antrag zu entscheiden hat, sich auch im Reflex-Modus befindet.
In einem Fall, in dem mein Mandant bei nachweislich verschmutzter und hierdurch rutschiger Fahrbahn von der Straße abgekommen war, hatte der zuständige Richter ausgeschlossen, daß der Unfall eine andere Ursache hatte als die geringe Alkoholisierung des Mandanten. Woher das Gericht diese innere Überzeugung nahm, ist mir verborgen geblieben. In einem anderen Fall, in dem mein Mandant mit übersichtlicher Alkoholisierung von der Straße abgekommen war, nachdem ein entgegenkommendes Fahrzeug seine Fahrspur geschnitten und ihn zum Ausweichen gezwungen hatte, war der Amtsrichter ebenfalls davon überzeugt, daß Alkohol die Ursache des Unfalles darstellte.
In dem letztgenannten Fall hat dann die Beschwerdeinstanz die amtsrichterliche Entscheidung aufgehoben und mit deutlichen Worten darauf hingewiesen, daß nicht jeder Unfall mit alkoholbedingten Ausfallerscheinungen gleichzusetzen ist.
Besonders glücklich darf sich derjenige schätzen, bei dem bereits der Amtsrichter nicht über den gleichen Reflex wie die Staatsanwaltschaft verfügt. In dem obigen Beispielsfall mit dem übersehenen Radfahrer hat der zuständige Amtsrichter den Antrag der Staatsanwaltschaft auf vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis zurückgewiesen. In dem Fall hatte bereits die Polizei ausgeführt, daß es reine Spekulation sei, daß der Unfall auf der Alkoholisierung beruhte. Auf eine solche reine Spekulation wollte der Richter die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis dann doch nicht stützen. Wohl dem Beschuldigten, der auf einen RIchter trifft, der sich trotz der geringen Zeit, die ihm für die Bearbeitung eines solchen Antrages durchschnittlich eingeräumt wird, mit der Aktenlage, der einschlägigen Rechtsprechung und dem Vorbringen der Verteidigung inhaltlich auseinandersetzt. Selbstverständlich ist dies leider nicht.
RA Müller